Tiefenpsychologische Grundlagen der Übertragungsliebe

Tiefenpsychologische Grundlagen der Übertragungsliebe

Alle neurotischen Konflikte ergeben sich aus frühkindlichen Beziehungsproblemen und äussern sich später wieder als solche. Jede psychotherapeutische Behandlung hat daher zentral mit der Bearbeitung von Übertragungen zu tun. Aus dem Instanzenmodell von Sigmund Freud geht hervor, dass das „Ich“ im Kräftespiel zwischen dem „Über-Ich“ (als Vertreter von Moral, Ordnung, Reglement) und dem „Es“ (als Vertreter des Lustprinzips) ausgleichend reguliert und dabei nach dem Realitätsprinzip handelt und somit das innere Gleichgewicht des Menschen darstellt. Gelingt dieser Ausgleich nicht, weil das „Über-Ich“ bzw. das „Es“ zu stark agiert, bricht das „Ich“ zusammen und es kommt zu den sogenannten „Abwehrmechanismen“, die unbewusst in Form von neurotische Störungen auftreten (z. B. Verdrängung, Verleugnung, Projektion, Reaktionsbildung …). Eine weitere Möglichkeit für das „Ich“ stellt eine Flucht in Krankheiten dar, die als psychogen bezeichnet werden. In der Liebe zwischen Mann und Frau leben die kindlichen Gefühlsbeziehungen zu den Eltern wieder auf. Äußerlich genügt es nicht, sich von den Eltern zu lösen und einen eigenen Hausstand zu gründen. Vielmehr kommt es darauf an, die Erwartungen an den Partner nach kindlicher Geborgenheit und den Anspruch, diese wieder zu schenken oder zu ersetzen aufzugeben. Tiefenpsychologisch sind Vater und Mutter Gestalten archetypischer Erwartungen nach absoluter Akzeptanz und Geborgenheit. Auf Sehnsüchte dieser Art kann der Mensch im Grunde nicht verzichten. Man kann lediglich erreichen, dass das Verlangen nach absolutem Halt aus dem zwischenmenschlichen Bereich herausgenommen und selbst im Absoluten verankert wird. Der Ring der Liebe ist eine Auswirkung, eine Bestätigung der Geborgenheit im Ring der Welt und im Ring der Zeit. Nur wo sie selber sich zu Hause fühlen, können Menschen sich ihr Zuhause einrichten. Da die meisten Störungen der Liebe sich aus gewissen Übertragungsmustern ergeben, ist deren Analyse mehr als alles andere dazu geeignet, diese Bedingungen zu untersuchen. Es gibt in jedem Menschen etwas, das er in sich vermisst, etwas, das ihm fehlt und doch zu ihm gehört, und er kann es nur von aussen wiedererlangen. Dabei ist das stärkste Motiv der Liebe nicht, wie manche Idealromantiker meinen, die Hingabe, das Dasein wollen und das Opfer, sondern der Egoismus der eigenen Erfüllung, das göttliche Naturgesetz der eigenen Ganzheit.


Psychologisch gesehen ist alle Liebe zunächst Elternliebe, und zwar eine Liebe der Abhängigkeit. Im Kontakt mit seinen Eltern lernt ein Kind seine soziale und physische Umwelt kennen, und es gelangt vermittels seiner Eltern zu den ersten grundlegenden Einstellungen und Haltungen sich selbst gegenüber. Im späteren Leben wird es versuchen, diese Haltungen an anderen Menschen auszuprobieren und, je nach Erfolg oder Misserfolg, verfestigen oder abwandeln. Immer werden die Beziehungen zu anderen Menschen entscheidend von den ersten Erfahrungen an Vater und Mutter mitgeprägt sein. Jede Liebe unter Erwachsenen ist irgendwo auch eine Fortsetzung und Weiterführung der Elternliebe. Es stellt sich die Frage, in welchem Maße das gilt und hier trennen sich die Wege quantitativ und qualitativ. Eine Frau gilt als faszinierend oder (in Freudschem Sinne) als „unheimlich“ aufgrund ihrer Nähe zu dem Bild der Mutter, das unbewusst fortwirkt; ein Mann gilt als eine „beeindruckende“ Persönlichkeit infolge der unterschwelligen Nachwirkungen der Vatergestalt. Es genügen bereits geringfügige assoziative Anklänge an das unbewusste Bild von Vater oder Mutter, um gerade die Gefühle, Einstellungen und Verhaltensweisen in voller Macht wieder auf den Plan zu rufen Es bedarf hierbei keineswegs einer weitgehenden Entsprechung des Geliebten mit der Gestalt der betreffenden Elternimago. Eine solche Liebe, die in der Übertragung der Elternimagines auf den Partner besteht, bezeichnen wir mit Freud am besten als Übertragungsliebe. Es ist nun festzustellen, wie eine derartige Übertragungsliebe beschaffen ist und welche Konsequenzen sich daraus ergeben. Wichtig ist zu sehen, dass die Übertragungsliebe eigentlich gar nicht dem Geliebten gilt, sondern dieser nur den Anlass zur Wiederholung kindlicher Einstellungen abgibt. Sie stellt nur die Projektionsfläche kindlicher Übertragungen dar. Das Ich des Liebenden regrediert in der Übertragungsliebe zu Formen kindlicher Sorge und Anhänglichkeit. Es sieht nicht den anderen, wie er wirklich ist, es sieht ihn nur durch den Schleier der eigenen Übertragungen, die es selbst unbewusst an die Stelle der Wirklichkeit rückt. Die Kindlichkeit der Übertragungsliebe bedingt außerdem mit ihrer Realitätsferne ein hohes Maß an Narzissmus. Sosehr die Liebe eines Kindes zu seinen Eltern als eine verschobene Form des Selbsterhaltungstriebes, des Freudschen „Urnarzissmus“ verstanden werden muss, so sehr bedeutet die Übertragungsliebe eine höchst narzisstische Besetzung des „Libidoobjektes“. Man kann dies an den augenblicklichen Kränkungen und Enttäuschungen bemerken, die dann eintreten, wenn der Geliebte es wagt, zu deutlich von den kindlichen Erwartungen der Übertragungsliebe abzuweichen. Augenblicklich nimmt der andere in der Übertragungsliebe sich dann das Recht zu maßlosen Vorwürfen, Verzweiflungsausbrüchen und erpresserischen Drohungen heraus und kommt erst dann wieder zur Ruhe, wenn er den „Geliebten“ in das erwartete Verhaltenskorsett zurückgezwungen hat. In gewissem Sinne sieht in der Übertragungsliebe der aktive Teil nicht den anderen, sondern nur sich selbst. Die vollkommene Egozentrik der Übertragungsliebe ergibt sich nicht aus einer ungehemmten egoistischen Ich-Durchsetzung , sondern aus einer fatalen Ich-Einengung. Die größte Rolle spielen dabei innere, psychische Zwänge, Ängste und Irrtümer der Person. Ein Kind vermöchte sich von den mächtigen Gestalten von Vater und Mutter mit zunehmendem Alter zu befreien, wenn es nicht unter dem Druck der Angst und der entsprechenden Schuldgefühle, also Strafängste, sich in den Anfangsjahren seiner psychischen Entwicklung über die Maßen mit den moralischen Vorschriften und seelischen Erwartungen seiner Eltern zu identifizieren gezwungen sähe. Um die allmächtig erscheinenden Eltern nicht zu verlieren, klammert sich das Kind in verzweifelter Weise an das elterliche Vorbild, so dass es deren Gestalten in erdrückender Weise introjiziert. Nur durch die melancholische Angst, ohne Vater und Mutter selber wie entwertet oder vernichtet zu sein, wird das Bemühen verständlich, später im Erwachsenenalter in dem Geliebten einen Ersatz für den verlorenen Vater oder die verlorene Mutter zu finden. Ein Eheschluss kommt unter diesen Umständen immer einem schweren „Irrtum der Person“ gleich, insofern der andere in der Realität niemals ganz, oft nicht einmal nur annähernd der Gestalt des vermissten Elternteils gleicht. Die Erwartung einer solchen Identität von Elternimago und Ehepartner bildet aber gerade die irrtümliche Voraussetzung der Übertragungsliebe. Der Begriff „Irrtum“ ist dabei wörtlich zu nehmen. Gemeint ist damit, dass jemand subjektiv etwas als gegeben annimmt, das objektiv nicht zutrifft. Einem Außenstehenden könnte die Übertragungsliebe als ein Selbstbetrug erscheinen; das ist sie aber keinesfalls. Das Ich ist sich nicht darüber im klaren, wie sehr die Realität durch die Vorgänge der Übertragung verzeichnet wird. Es ist sich nicht bewusst, dass die magische Faszination, die ein anderer ausübt, nicht von ihm selbst, sondern von der Gestalt der Eltern ausgeht. Vielleicht wird gerade dieser fatalistische, zwanghafte Zug der Übertragungsliebe bei manchem Zweifel darüber wecken, ob es die hier beschriebene Form einer Übertragung der Vater- oder Muttergestalt mit ihrem hohen Maß an Unfreiheit wirklich gibt. Aber man muss sich verdeutlichen, dass es sich bei dem Begriff der der Übertragungsliebe nicht um Spekulationen über Möglichkeiten, sondern um die Erklärung faktischer Vorkommnisse handelt. Wer hätte nicht bereits erlebt, dass irgendwo in seiner Umgebung eine Frau wider alle Vernunft sich in eine Bekanntschaft begibt, um sich Hals über Kopf, unverständlich für alle, die sie kennen, in eine völlig aussichtslose, gefährliche, zumindest unattraktiv erscheinende Beziehung zu stürzen? Allen Zurückweisungen, Lieblosigkeiten und Enttäuschungen zum Trotz wird bis in den Wahn hinein an einer unerwiderten Treue festgehalten. Oftmals ist das prägende Erleben der Kindheit eines solchen Menschen durch schwere Hemmungen im oralkaptativen Bereich gekennzeichnet. Die Frage hierzu lautet, wie eine Erlösung aus dem Getto derartiger Angst- und Schuldgefühle im gesamten Wunscherleben später noch möglich sein soll. Durch das innere Bild des Vaters zieht der Geliebte alle diejenigen Hoffnungen und Erwartungen auf sich, die in der Kindheit des Mädchens so bitter enttäuscht wurden, und er lässt sich unbemerkt zu einem Verhalten bewegen, das ganz und gar den Erfahrungen des Mädchens mit seinem Vater widerspricht. Somit gleicht der Partner die oralen Gehemmtheiten des Mädchens künstlich aus, so dass nach aussen hin alles perfekt erscheint. Doch trotz aller Bemühungen und allen Wohlwollens seinerseits vermag es die Angst- und Schuldgefühle nicht zu überwinden. Im Gegenteil – es überträgt nicht nur die Hoffnungen, sondern ebenso die Ängste, die es dem Vater gegenüber besessen hat. Die Beziehung wird schliesslich von quälenden Missverständnissen heimgesucht. Selbst die schönsten und bestgemeinsten Mitteilungen werden verdreht und ins Gegenteil verkehrt. In der Ehe mutet es wie der Eintritt in ein Paradies an, und es kann nicht wissen, dass gerade dieser Paradieseindruck nur die Kehrseite der nachfolgenden Ängste, Schuldgefühle und mörderischen Unerträglichkeiten darstellt. In umgekehrter Weise wird nun die Vaterbeziehung wiederholt. Die Ehe stellt somit eine Zwischenstufe für die psychische Reifung des Mädchens dar, um überhaupt in einem ersten Schritt das unglückselige Bild seines Vaters aufzuarbeiten. Trotzdem stellt der Irrtum der Person des Partners kein Irrtum in dem Lebensweg des Mädchens dar. Denn erst in der unglückseligen Beziehung und ihrem häufig daraus resultierendem Scheitern entsteht ein Lernprozess, der ein eigenes Leben und Tun erlaubt. Es bedarf in der Übertragungsliebe eines langen Weges der Reifung und der inneren Entwicklung, für den es trotz allen guten Willens keine Garantien und Sicherungen gibt. Es wäre zu simpel, wollte man die Übertragungsliebe auf den engen Umkreis der projizierten Elternimago in ihren positiven oder negativen Inhalten beschränken. Alle psychischen Komplexbildungen bringen ein ganzes Gezweig neuer Reaktionsbildungen und Verästelungen mit sich. Die Übertragungsliebe kann also auch so strukturiert sein, dass die Elternimago nicht auf den anderen projiziert, sondern als Ichideal aus Sehnsucht und Verpflichtung zur Bedingung und Forderung des eigenen Verhaltens erhoben wird. Das zeigt sich z. B. so, dass ein Ehemann in der Rolle des verantwortungsbewussten, helfenden Vaters verharrt, weil in ihm selber ein kleiner, hilfloser Junge steckt, den er in der Not eines jeden anderen wiederfindet. Die Beziehung zu anderen Menschen basiert also nicht auf eigentlicher Liebe, sondern Mitleid. Sein einziges Ziel besteht darin, seine Frau glücklich zu machen. In zunehmendem Masse muss er jedoch feststellen, dass das Leben miteinander sich auf die Einhaltung eines im Grunde verlogenen Rituals zärtlicher Gebärden reduziert, das nur mühsam den sich ansammelnden Hass verdeckt und dessen blosse Aufrechterhaltung bereits eine übermenschliche Anstrengung verlangt. Das Arrangement kann nur in einer heillosen Selbstüberforderung bestehen, indem das Ich seine eigenen Bedürfnisse nur ansatzweise im anderen befriedigt und selber dabei völlig leer ausgeht. Ein weiteres Thema der Übertragungsliebe findet sich in der Form der AnimaProjektion. Quasi über Nacht gerät ein zuvor geordnetes, treues, untadeliges und verantwortungsvolles Leben völlig durcheinander. Der Anlass dafür kann eine zufällige, an sich nebensächliche Begebenheit sein, z. B. eine KongressBekanntschaft, die mit einem Mal lebensbestimmend wird. Bei näherer Betrachtung wird man mit grosser Regelmässigkeit feststellen, dass der Betreffende bis dahin im engen Rahmen seiner Überich festgelegten Welt gelebt hat und immer den allgemeinen Erwartungen entsprochen hat. Er konnte nicht merken, dass er hauptsächlich mit dem vom Verstand und Willen gesteuerten Kräften seines Ichs liebte. Anlässlich der Begegnung mit einer ganz anderen, womöglich unsittlichen, pflichtvergessenen, haltlosen Person, die durch objektive Minderwertigkeit in Erscheinung tritt, bricht nun die Hintergrundwelt seines verborgenen Lebens auf. Gerade das Abschreckende einer solchen Gestalt wird in der Anima-Liebe zum unwiderstehlich Faszinierenden. Die Geliebte muss – wie im Märchen – erlöst und gerettet werden. Eben deshalb ist die Hilfsbedürftigkeit und Niedrigkeit der Geliebten sehr oft die unerlässliche Liebesbedingung der Anima- Übertragung. In Wahrheit geht es natürlich nur mittelbar um die Rettung des anderen. Der eigentliche Rettungsversuch dient der eigenen Seele. Indem der andere „minderwertig“ gewählt wird (wenn hier von Wahl die Rede sein kann), bietet er die Möglichkeit und Erlaubnis, die eigenen minderwertig gebliebenen, angstbesetzten Strebungen an ihm zu erproben und in eine weniger verzerrte Gestalt zu überführen. Es besteht die Chance, die bis dahin unintegrierten Strebungen im Unbewussten der Psyche aufzuarbeiten und damit die eigene Persönlichkeit weiter und freier werden zu lassen. Es besteht aber auch die nicht geringe Wahrscheinlichkeit, den bis dahin unbekannten Energien hilflos zu verfallen und auf der ganzen Linie zu scheitern. Tiefenpsychologisch zeigt sich, dass manche Motive der Liebe nicht mit Verstand und gutem Willen zu steuern sind, weil sie tief im Unbewussten liegen. Tatsächlich ist dies psychologisch ein Hauptproblem der Partnerschaft, dass oft im anderen die eigene Mutter oder der eigene Vater gesucht, geliebt, gehasst wird und auf ihn ihre Erinnerungen übertragen werden, die seine wirkliche Persönlichkeit nahezu unsichtbar machen. Statt mit erwachsener Liebe sind sie mit den Fesseln kindlicher Angst und Abhängigkeit gebunden. In einem Zeitpunkt ihres Lebens, wo sie sich u. U. am glücklichsten wähnen, ahnen sie nicht, dass sie in Wahrheit vollkommen unfrei handeln und gerade dabei sind, eine Tragödie vorzubereiten.


Quelle: Eugen Drewermann / Psychoanalyse und Moraltheologie/ Wege und Umwege der Liebe